Warum man Substitute für Identitätspolitik braucht, führe ich hier aus. Konkret politisch ist hier innerhalb der nächsten Dekaden das Projekt der europäischen Integration zu nennen, indem eine demokratisch-liberales, wirkungsmächtiges Bollwerk gegen neue aufstrebende autoritäre Kräfte durch nationalistische Identitätspolitik verhindert wird. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen sind Ceteris Paribus vorausgesetzt. Hier eine Skizze.
Der menschliche Drang nach Gruppenzugehörigkeit ist ein unumstößliches Merkmal der Menschheitsgeschichte. Die Masse ist mit Canetti gesprochen" unersättlich", "Solange es einen Menschen gibt, der nicht von ihr ergriffen ist, zeigt sie Appetit" (M.E. die einzige Möglichkeit Masse und Macht zu zitieren, da zwar sehr wortmächtig aber nicht rigoros).
Wie kann man den menschlichen Drang nach Gruppenzugehörigkeit auf nationaler Ebene und subsequent für alle Identitätsausprägungen substituieren? Folgende Dichotomie ist denkbar:
Transzendenz
Auflösung in einer internationalen, höheren Identität, z.B. der Europäer
Subsidiarität
Auflösung in einer lokaleren, kleineren Identität, z.B. der Berliner
Da das erstere sowieso extensiv erforscht wurde und wird, will ich mich vor allem auf Subsidiarität konzentrieren. Wie kann man nun ein potentes Substitut für die Nation ausfindig machen? Die Auslagerung in die kommunale Ebene funktioniert oftmals außerordentlich gut, wobei spielerische Rivalität zwischen Frankfurtern und Berlinern die n Antagonismen zwischen Deutschen und Franzosen substituiert. Was der Stadt jedoch fehlt ist die Intimität, die Überwindung alltäglicher Berührungsfurcht. Die erkennt man eher im Fußballverein wieder, der mit Hymne und Vereinsfarben atavistische Instinkte anspricht. Allerdings gibt es immer wieder Überlappungen mit Nationalistischen Ideen, die vielleicht auch eher der Selektion des Klientel als der Organisation selbst zusammenhängt, aber unter Berücksichtung von regelmäßigen Gewaltexzessen und anderen negativen Externalitäten ist eine positive gesamtgesellschaftliche Bilanz nicht eindeutig. Was jedoch all diesen Möglichkeiten fehlt sind Narrative, Nachempfindungen des Volksmythos. Eine lokales, kleines, intimes und potential narrativmächtiges Substitut indes ist die Familie und hier insbesondere die Familienhistorie. Keine neue Idee und keine ideale Lösung aber im aktuellen gesellschaftlichen Klima ist politische Prüderie ein Luxusgut.
Die deutsche Wikipedia kennt 250.000 Deutsche, die ihre Relevanzkriterien erfüllen. Angenommen von denen fallen 1/5 unter die Kategorie eines bisher unbekannten Vorfahren. Je nachdem wie weit man nun die Verwandschaft fasst, ergibt sich bei einer Verwandschaft 9. Grades eine mehr als neunzig prozentige Wahrscheinlichkeit einer Verwandschaft mit einer außerordentlichen Persönlichkeit . Fasst man Außerordentlichkeit etwas weiter auf und erweitert um 400000 Personen ,die die Geschichte übersehen hat oder die noch nicht bei Wikipedia aufgeführt sind, ist man bereits bei einer mehr als sechzig prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Verwandschaft im fünften Grad zu einer Person im obersten Perzentil der Prominenzverteilung.
Falls man sich nicht mit meiner laienhaften Rechnung zufriedenstellt, Joseph Chang vom Department of Statistics in Yale hat sich die Mühe gemacht, das Vorfahrenproblem mathematisch zu vereinfachen. In seinem Modell (das zwar Migrationshindernisse außer Acht lässt, das ist aber im Falle einer nationalen Betrachtung vermutlich auch weniger relevant) ist der erste gemeinsame Vorfahre in der Generation log2(n) zu finden. Für eine wachsende Bevölkerung nimmt man die Zahl der möglichen Verwandten zum Zeitpunkt des vermuteten gemeinsamen Vorfahrens, nehmen wir hier zB 1750, ist dies für 16 Millionen Menschen, also ca. in der 24. Generation. Multipliziert man diesen Wert mit 1.77 erhält man eine Zeitspanne von 42 Generationen, vor denen jeder Zeitgenosse entweder mit allen Menschen in Deutschland oder niemandem verwandt ist. Praktisch heißt das etwa dass jeder Deutsche ein direkter Nachfrage Karl des Großen ist.
Mit zunehmender Digitalisierung ist es heute einfacher als je zuvor sich über seine Verwandschaftsverhältnisse zu informieren. DNA-Analysen helfen bei der Einschränkung der Suche, auch wenn sie zunächst obsolete Identitätsbegriffe aufgreifen. Die digitale Genealogie wird zunehmend in der Lage sein, immer mehr Generationen und Grade nach Verwandten zu durchforsten. Und die Stochastik sagt voraus, dass es ab einem gewissen Grad äußerst unwahrscheinlich wird, nicht zu finden wonach man sucht. Mit diesen neuen Möglichkeiten ist man nun in der Lage das potente Substitut der Familie einzuführen.
Ist man bei der Suche fündig geworden, kann man nun den Vorfahren als Identifkationsfigur in ein Narrativ eingliedern, sei es der Bürgermeister, Bierbrauer oder Bernsteinbildhauer. Der Familienzusammenhalt wird gestärkt, will man soweit gehen kann man beim Adel leihen und sich Farben und Wappen aneignen. Die Familie eint die Vorteile der Intimität, des Narrativs, der Vermeidung unnötiger Ressentiments.
Anwendung
Um ein wenig anekdotische Evidenz für die Richtigkeit der mathematischen Begründung zu liefern: nachdem ich einmal beschlossen hatte, war es recht leicht, sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits einen direkten Vorfahren mit Wikipedia-Artikel zu finden. Die Recherche über meinen UrUrUrUrgroßvater hat mich dann schließlich auf höchst interessantes, bisher unerforschtes Material stoßen lassen, die ich hier zusammengefasst habe: https://www.christian.minkus.org/ (Das Theaterstück auf der Seite wäre ein Beispiel für eine Einbindung in ein Narrativ).
Berechnung: